AUF DEN FELSEN VON TEL`NAEÍR

Ffffph. Der Drache kam als immer heller werdender Lichtpunkt über dem Felsmassiv von Tel’naeír heraufgeschwebt und ließ Eragon und die Elfen im Luftstrom seiner Flügelschläge erschaudern. Aus seinem Körper schienen Flammen herauszuschießen, als das gleißende Sonnenlicht direkt auf seine goldenen Schuppen fiel und einen irisierenden Widerschein auf Boden und Bäume warf. Er war viel größer als Saphira, groß genug, um viele hundert Jahre alt zu sein, und sein Hals, seine Gliedmaßen und sein Schwanz waren entsprechend mächtig. Auf dem Rücken saß ein Drachenreiter, dessen weißes Gewand sich deutlich von dem schillernden Schuppenpanzer absetzte.
Eragon sank auf die Knie und blickte zu dem Drachen auf. Ich bin nicht allein… Ehrfurcht und Erleichterung durchströmten ihn. Er würde die Verantwortung für das Schicksal der Varden und den Kampf gegen Galbatorix nicht mehr allein tragen müssen. Aus den Tiefen der Zeit war einer der alten Wächter zurückgekehrt, um ihn zu führen, ein lebendes Symbol, ein Zeugnis der Mythen, mit denen er aufgewachsen war. Hier war sein Lehrmeister. Eine Fleisch gewordene Legende!
Als der Drache zum Landen ansetzte, zuckte Eragon bestürzt zusammen: Das linke Vorderbein des Wesens war durch einen entsetzlichen Schwerthieb abgetrennt worden, sodass es statt eines mächtigen Beins nur einen nutzlosen weißen Stumpf besaß. Eragon stiegen Tränen in die Augen.
Ein Wirbelwind aus trockenen Zweigen und Blättern stob durch die Lichtung, als der Drache im Klee aufsetzte und die Flügel anlegte. Der Reiter stieg über das unversehrte rechte Vorderbein ab und ging mit aneinander gelegten Handflächen auf Eragon zu. Es war ein Elf mit silbernem Haar. Er war unermesslich alt, wenngleich der einzige Hinweis darauf der Ausdruck grenzenloser Anteilnahme und Trauer in seinen Augen war.
»Osthato Chetowä«, sagte Eragon. »Trauernder Weise... Ich bin gekommen, so wie Ihr es gewünscht habt.« Er erschrak, als ihm die Regeln der Höflichkeit einfielen, und führte hastig die Finger an die Lippen. »Atra Esterní ono thelduin.«
Der Drachenreiter lächelte. Er ergriff Eragon bei den Schultern und half ihm auf die Beine, wobei er ihn so gütig ansah, dass Eragon unmöglich den Blick abwenden konnte. Die Tiefe dieser Elfenaugen ließ ihm keine andere Wahl. »Mein richtiger Name ist Oromis, Eragon Schattentöter.«
»Du hast von ihm gewusst«, flüsterte Islanzadi verletzt. Plötzlich brannte ihr Blick vor Wut. »Du wusstest von Eragons Existenz und du hast nichts gesagt? Warum hast du mich hintergangen, Shur’tugal?«
Oromis löste den Blick von Eragon und wandte sich der Königin zu. »Ich habe Stillschweigen bewahrt, weil ich nicht sicher war, ob Eragon und Arya lange genug überleben würden, um hierher zu gelangen. Ich wollte dir keine Hoffnung machen, die sich jeden Moment in Nichts auflösen konnte.«
Islanzadi fuhr herum und ihr Mantel aus Schwanenfedern bauschte sich im Wind auf wie ausgebreitete Flügelschwingen. »Du hattest kein Recht, mir diese Information vorzuenthalten! Ich hätte Krieger ausschicken können, um Arya, Eragon und Saphira in Farthen Dûr zu beschützen und sie sicher herzugeleiten.«
Oromis lächelte traurig. »Ich habe dir nichts verheimlicht, was du nicht selbst schon zu übersehen beschlossen hattest, Islanzadi. Hättest du pflichtgemäß deine Traumsicht über das Land schweifen lassen, wäre dir nicht entgangen, welches Chaos Alagaësia überschwemmt. Du hättest die Wahrheit über Eragon und Arya gesehen. Dass du in deinem Leid die Varden und die Zwerge vergisst, ist verständlich, aber Brom? Einen Vinr Älfakyn? Den Letzten der Elfenfreunde? Du warst blind für die Welt, Islanzadi, und eine nachlässige Herrscherin. Ich konnte es nicht riskieren, dich noch weiter von uns zu entfernen, indem ich dich mit einem neuerlichen Verlust belaste.«
Islanzadis Zorn verebbte. »Du demütigst mich«, flüsterte sie mit blasser Miene und hängenden Schultern.
Ein heißer, feuchter Luftstoß schlug Eragon entgegen, als der goldene Drache den Kopf senkte, um ihn mit Funken sprühenden Augen zu mustern. Unser Treffen steht unter einem guten Stern, Eragon Schattentöter. Ich bin Glaedr. Seine Stimme rollte durch Eragons Gedanken und ließ sie erbeben wie unter einer donnernden Lawine. Es war zweifellos eine männliche Stimme.
Eragon war zu nichts anderem imstande, als die Lippen zu berühren und zu sagen: »Es ist mir eine Ehre.«
Dann wandte Glaedr sich Saphira zu. Sie verharrte in regungsloser Anspannung, während Glaedr an ihren Wangen und Flügeln schnüffelte. Eragon sah, dass ihre Flanken zitterten. Du riechst nach Menschen, sagte Glaedr, und von deinen Vorfahren weißt du nicht mehr als das, was deine Instinkte dich gelehrt haben. Aber du hast das Herz eines wahren Drachen.
Während das goldene Geschöpf lautlos mit Saphira plauderte, stellte Orik sich Oromis vor. »Ihr übertrefft meine kühnsten Erwartungen. Ihr seid eine freudige Überraschung in diesen dunklen Zeiten, Drachenreiter.« Er klopfte sich mit der rechten Faust an die Brust. »Wenn es nicht zu anmaßend ist, möchte ich Euch im Namen meines Königs und meines Clans um etwas bitten.«
Oromis nickte. »Wenn es in meiner Macht steht, werde ich deinen Wunsch erfüllen.«
»Dann verratet mir: Warum habt Ihr Euch all die Jahre versteckt? Eure Hilfe wäre bitter nötig gewesen, Argetlam.«
»Ah«, sagte Oromis. »Es gibt so viel Leid auf der Welt, und eines der größten Kümmernisse besteht darin, nicht helfen zu können, obwohl man es gerne möchte. Ich konnte es nicht riskieren, diesen Ort zu verlassen, denn wenn ich umgekommen wäre, bevor eines von Galbatorix’ Eiern geschlüpft war, hätte der neue Drachenreiter keinen Lehrmeister gehabt, und das hätte den Kampf gegen Galbatorix erschwert.«
»Das war der Grund?« Orik spie die Worte geradezu aus. »Das sind die Worte eines Feiglings! Der neue Drache wäre vielleicht nie geschlüpft!«
Tödliche Stille senkte sich über die Lichtung, nur durchbrochen von einem leisen Grollen aus Glaedrs mächtiger Kehle. »Wärst du kein Gast, Zwerg«, sagte Islanzadi, »würde ich dich für diese Beleidigung eigenhändig töten.«
Oromis breitete die Arme aus. »Ach was, ich bin nicht beleidigt. Deine Reaktion ist verständlich. Du musst wissen, Orik, Glaedr und ich können nicht kämpfen. Glaedrs Gebrechen ist offenkundig, und ich«, er fasste sich an die Schläfe, »ich bin auch verkrüppelt. Als ich Gefangener der Abtrünnigen war, haben sie etwas in mir zerstört. Ich kann zwar noch immer unterrichten, aber bis auf einige kleine Zaubereien beherrsche ich keine Magie mehr. Ich kann mich anstrengen, wie ich will, es gelingt mir nicht. In einer Schlacht wäre ich mehr als nutzlos, ich wäre eine Last und Gefahr, denn man könnte mich gefangen nehmen und als Druckmittel einsetzen. Deshalb habe ich mich zum Wohle aller nach Du Weldenvarden zurückgezogen, obwohl ich viel lieber Galbatorix bekämpfen würde.«
Der unversehrte Krüppel, murmelte Eragon zu sich selbst.
»Vergebt mir«, sagte Orik sichtlich betroffen.
»Schon gut.« Oromis legte Eragon eine Hand auf die Schulter. »Islanzadi Dröttning, erlaubst du?«
»Geht nur«, sprach sie kraftlos. »Es ist alles gesagt.«
Glaedr legte sich zu Boden und Oromis stieg über das Bein des Drachen geschwind in den Sattel. »Kommt, Eragon und Saphira. Es gibt viel zu bereden.« Der goldene Drache sprang von der Felskante und ließ sich auf einem Steigwind zum Himmel emportragen.
Eragon und Orik packten einander beim Arm. »Mach deinem Clan Ehre«, sagte der Zwerg.
Als Eragon auf Saphiras Rücken stieg, fühlte er sich, als bräche er zu einer weiten Reise auf und müsse den Zurückbleibenden Lebewohl sagen. Doch er hatte nur Augen für Arya und legte die ganze Freude, die ihn erfüllte, in sein strahlendstes Lächeln. Sie zog die Stirn in Falten, als sei sie besorgt um ihn, aber dann hoben ihn Saphiras eilige Flügelschläge auch schon in die Lüfte.
Die beiden Drachenreiter folgten dem Felsmassiv einige Meilen nach Norden, begleitet nur vom rauschenden Wind. Saphira flog Seite an Seite mit Glaedr. Ihre Begeisterung übertrug sich auf Eragon, sodass sich seine ohnehin gute Laune in ein berauschendes Hochgefühl verwandelte.
Sie landeten auf einer weiteren Lichtung über dem Felsmassiv, kurz vor der Stelle, wo das nackte Gestein wieder im Erdboden verschwand. Ein Pfad führte von der Felskante zu einer niedrigen Holzhütte, die zwischen vier Bäumen aus dem Erdreich wuchs. Einer der Stämme bildete mit seinem Wurzelwerk eine Brücke über ein Bächlein, das aus den schummrigen Tiefen des Zauberwalds hervorgluckerte. Glaedr hätte niemals in die Hütte gepasst - eher hätte er sich die kleine Behausung ins Maul stopfen können.
»Willkommen in meinem Heim«, sagte Oromis und stieg leichtfüßig ab. »Ich lebe auf dem Felsmassiv von Tel’naeír, weil man hier oben in Frieden nachdenken und lernen kann. Mein Geist arbeitet besser fernab der geschäftigen Elfenstädte.«
Er verschwand in der Hütte und kehrte mit zwei Hockern und zwei gefüllten Wasserkrügen zurück. Eragon trank einen Schluck und bewunderte die herrliche Aussicht über Du Weldenvarden, während er ehrfürchtig darauf wartete, dass der Elf etwas sagte. Ich sitze hier mit einem anderen Drachenreiter! Saphira lag neben ihm, den Blick auf Glaedr gerichtet, und wühlte unruhig den Boden auf.
Das Schweigen dehnte sich länger und länger. Zehn Minuten verstrichen, wurden erst eine halbe und dann eine ganze Stunde. Schließlich begann Eragon, die verstrichene Zeit am Sonnenstand zu bemessen. Anfangs schwirrten ihm noch viele Fragen und Gedanken durch den Kopf, aber nach und nach verstummten sie und wichen innerer Ruhe. Es gefiel ihm, einfach nur den Lauf des Tages zu beobachten.
Schließlich beendete Oromis das Schweigen und sagte: »Du verstehst dich auf die Tugend der Geduld. Das ist gut.«
Eragon brauchte einen Moment, um seine Stimme wiederzufinden. »Man kann kein Wild erlegen, wenn man es zu eilig hat.«
Oromis stellte seinen Krug ab. »Wahre Worte. Zeig mir deine Hände! Ich glaube, dass Hände viel über einen Menschen verraten.« Eragon streifte die Handschuhe ab und erlaubte dem Elf, mit schlanken, spröden Fingern seine Handgelenke zu umfassen. Oromis betrachtete Eragons Handballen und sagte: »Korrigiere mich, wenn ich mich irre: Du hast Sense und Pflug öfter geschwungen als das Schwert, aber du bist mit dem Bogen vertraut.«
»Das stimmt.«
»Und du hast bisher nur selten geschrieben oder gezeichnet, vielleicht sogar noch nie.«
»Brom hat mir in Teirm Lesen und Schreiben beigebracht.«
»Hmm. Neben der Wahl deiner Werkzeuge erscheint es offensichtlich, dass du zur Waghalsigkeit neigst und dein eigenes Wohlergehen hintanstellst.«
»Wie kommt Ihr darauf, Oromis-Elda?«, fragte Eragon. Er benutzte die respektvollste und ehrerbietigste Anrede, die er kannte.
»Nicht Elda«, stellte Oromis richtig. »In eurer Sprache kannst du mich Meister nennen und in der alten Sprache Ebrithil. Dieselbe Höflichkeit wirst du Glaedr erweisen. Wir sind deine Lehrer, du bist unser Schüler, und du wirst uns den gebührenden Respekt entgegenbringen.« Oromis’ Stimme war sanft, aber befehlsgewohnt, und verlangte absoluten Gehorsam.
»Ja, Meister Oromis.«
»Und das Gleiche gilt für dich, Saphira.«
Eragon spürte, wie schwer es Saphira fiel, ihren Stolz herunterzuschlucken und Ja, Meister zu sagen.
Oromis nickte zufrieden. »Gut. Wer so viele Narben hat wie du, ist entweder ein hoffnungsloser Pechvogel, kämpft wie ein Berserker oder sucht die Gefahr. Kämpfst du wie ein Berserker?«
»Nein.«
»Du machst auch nicht den Eindruck, vom Pech verfolgt zu sein - ganz im Gegenteil. Damit bleibt nur eine Erklärung. Es sei denn, du bist anderer Meinung.«
Eragon dachte an die vielen Abenteuer, die er seit seiner Flucht aus Carvahall erlebt hatte, und versuchte, sein Verhalten zu bewerten. »Ich würde eher sagen, ich bin konsequent, wenn ich mich einer Sache einmal verschrieben habe, koste es, was es wolle... besonders wenn jemand, der mir am Herzen liegt, in Gefahr ist.« Sein Blick streifte Saphira.
»Und dabei gehst du große Wagnisse ein?«
»Ich scheue die Herausforderung nicht.«
»Also misst du dich gerne mit dem Feind, um deine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.«
»Es macht mir Spaß, Herausforderungen zu bewältigen, aber ich habe genug durchlitten, um zu wissen, dass es dumm ist, sich das Leben unnötig schwer zu machen. Es ist so schon hart genug.«
»Trotzdem hast du dich entschieden, die Ra’zac zu jagen, obwohl es leichter gewesen wäre, in Carvahall zu bleiben. Und du bist hergekommen.«
»Es war richtig, zu Euch zu kommen … Meister.«
Einige Minuten lang sagte keiner ein Wort. Eragon versuchte zu erraten, was der Elf dachte, aber seine maskenhaften Züge gaben nicht den leisesten Hinweis. Schließlich brach Oromis das Schweigen. »Hat man dir in Tarnag vielleicht irgendein Schmuckstück mitgegeben, Eragon? Einen Edelstein oder auch eine Münze?«
»Ja.« Eragon griff unter sein Wams und zog die Halskette mit dem kleinen Silberhammer hervor. »Die hat mir Gannel geschenkt, um mich und Saphira vor der Traumsicht zu schützen. Die Zwerge befürchteten, dass Galbatorix wüsste, wie ich aussehe… Woher habt Ihr von der Kette gewusst?«
»Weil dich seit kurzem ein schützender Zauber umgibt«, sagte Oromis.
»Vor etwa einer Woche hat jemand versucht, mich bei Sílthrim mit der Traumsicht zu finden. Wart Ihr das?«
Oromis schüttelte den Kopf. »Nachdem ich dich einmal zusammen mit Arya ausgemacht hatte, brauchte ich dieses primitive Mittel nicht mehr, um dich zu beobachten. Ich konnte deinen Geist mit meinen Gedanken berühren, so wie nach der Schlacht in Farthen Dûr, als du im Koma gelegen hast.«
Er nahm ihm die Kette aus der Hand und murmelte ein paar Worte in der alten Sprache, bevor er Eragon das Schmuckstück zurückgab. »Ich kann darauf keinen anderen Zauber entdecken. Trage sie immer bei dir! Es ist ein kostbares Geschenk.« Er legte die Fingerspitzen aneinander und schaute zum Horizont. »Warum bist du hier, Eragon?«
»Um meine Ausbildung zu vollenden.«
»Und was, glaubst du, bedeutet das?«
Eragon rutschte unbehaglich herum. »Ich werde wohl mehr über Magie und übers Kämpfen lernen. Brom blieb nicht genug Zeit, um mir alles beizubringen, was er wusste.«
»Magie, Schwertkampf und ähnliche Fertigkeiten sind nutzlos, wenn man nicht weiß, wie und wann man sie einsetzen muss. Das ist es, was ich dir beibringen werde. Galbatorix’ abschreckendes Beispiel zeigt, dass Macht ohne Moral das Gefährlichste ist, was es auf der Welt gibt. Deshalb ist es meine wichtigste Aufgabe, dir und Saphira zu helfen, die Prinzipien eures Handelns zu erkennen, damit ihr nicht richtige Entscheidungen aus falschen Beweggründen trefft. Ihr müsst mehr über euch selbst lernen, darüber, wer ihr seid und was ihr bewirken könnt. Deshalb seid ihr hier.«
Wann fangen wir an?, fragte Saphira.
Oromis wollte antworten, als er plötzlich verkrampfte und den Krug neben ihm umstieß. Sein Gesicht lief rot an, seine Finger krümmten sich und krallten sich in sein Gewand. Die Verwandlung war erschreckend und kam völlig unvermittelt. Eragon hatte kaum Zeit zu reagieren, bevor der Elf sich wieder entspannte, wenngleich seine gekrümmte Haltung von tiefer Erschöpfung kündete.
Besorgt wagte Eragon zu fragen: »Alles in Ordnung, Meister?«
Oromis’ Mundwinkel zuckten verdrossen. »Meine Gesundheit lässt zu wünschen übrig. Wir Elfen halten uns zwar für unsterblich, aber nicht einmal wir können bestimmten Leiden entgehen. Wir können sie mit unserer Magie bloß eine Weile aufschieben. Aber sorge dich nicht … Es ist nicht ansteckend - aber es kann auch nicht mehr geheilt werden.« Er seufzte. »Ich habe mich jahrzehntelang mit hunderten von kleinen, schwachen Zaubern umwoben, damit ich lange genug durchhalte, um die Geburt des letzten Drachen zu erleben und seinen Reiter ausbilden zu können.«
»Wie viel Zeit …«
Oromis hob eine Augenbraue. »Wie lange mir bleibt, bis ich sterbe? Wir haben Zeit, aber sie ist knapp bemessen, besonders falls die Varden deine Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Und deshalb - das beantwortet deine Frage, Saphira - beginnen wir sofort mit eurer Ausbildung. Wir werden zielstrebiger arbeiten als je ein Drachenreiter zuvor, denn ich muss euch in wenigen Wochen und Monaten Dinge beibringen, die andere in Jahrzehnten gelernt haben.«
»Wisst Ihr von …« Eragon rang mit der Scham, die in ihm aufstieg und seine Wangen glühen ließ. Zähneknirschend presste er die verhassten Worte hervor: »… von meiner Verletzung? Ich bin ebenso sehr ein Krüppel wie Ihr.«
Mitgefühl lag in Oromis’ Blick, aber seine Stimme blieb streng. »Ja, ich weiß von deiner Verletzung, Eragon, aber du bist nur dann ein Krüppel, wenn du dich so fühlst. Ich verstehe deine Sorge, aber du musst zuversichtlich bleiben. Verdruss ist eine größere Behinderung als jedes körperliche Gebrechen. Selbstmitleid hilft weder dir noch Saphira. Ich und andere magiekundige Elfen werden dich untersuchen und herausfinden, ob wir dich heilen können. Aber in der Zwischenzeit fahren wir mit deiner Ausbildung fort, als ob du gesund wärst.«
Eragons Magen krampfte sich zusammen, und ein bitterer Geschmack legte sich auf seine Zunge, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Oromis kann doch nicht wollen, dass ich mich so quäle! »Aber die Schmerzen sind unerträglich!«, erklärte er verzweifelt. »Es würde mich umbringen, wenn ich -«
»Nein, Eragon. Es wird dich nicht umbringen - so viel weiß ich über den Fluch, der auf dir lastet. Wir müssen beide unsere Pflicht erfüllen, du gegenüber den Varden und ich dir gegenüber. Du kannst dich nicht davor drücken, nur weil es wehtut. Dafür steht zu viel auf dem Spiel.« Eragon schüttelte bloß den Kopf, während ihn kalte Panik zu überwältigen drohte, doch er wusste, dass der Elf Recht hatte. »Eragon, du musst den Schmerz annehmen. Gibt es denn nichts oder niemanden, für den du dieses Opfer bereitwillig auf dich nimmst?«
Ihm fiel als Erstes Saphira ein, aber er tat es nicht für sie. Und auch nicht für Nasuada. Nicht einmal für Arya. Was trieb ihn also an? Als er Nasuada Gefolgschaft geschworen hatte, hatte er es für Roran und für alle Menschen getan, die unter Galbatorix’ Herrschaft litten. Aber waren diese Leute ihm wirklich so wichtig, dass er solche Qualen auf sich nehmen würde? Ja, beschloss er. Ja, sie sind mir so wichtig, weil ich der Einzige bin, der ihnen helfen kann, und weil ich erst dann wirklich frei sein werde, wenn sie es auch sind. Und weil ich im Leben nur eine Aufgabe habe, nämlich gegen Unrecht zu kämpfen. Was sollte ich denn sonst tun? Er schauderte, als sein Mund die schicksalhaften Worte sprach: »Ich nehme den Schmerz an, zum Wohle aller Menschen, die unter Galbatorix’ grausamer Herrschaft leiden müssen. Ich schwöre, dass ich ungeachtet meiner Qualen eifriger lernen werde als alle Schüler, die Ihr je hattet.«
Oromis nickte ernst und feierlich. »Nichts Geringeres erwarte ich von dir.« Einen Augenblick lang sah er Glaedr an, dann sagte er zu Eragon: »Steh auf und zieh dein Wams aus! Zeig mir, aus welchem Holz du geschnitzt bist!«
Wartet, sagte Saphira. Hat Brom gewusst, dass Ihr hier lebt, Meister?
Eragon hielt inne, als ihm klar wurde, dass dies durchaus möglich gewesen sein konnte.
»Natürlich«, sagte Oromis. »Er war mein Schüler in Ilirea. Ich bin froh, dass ihr ihn anständig beerdigt habt. Er hatte ein schweres Leben und nur wenige Freunde. Ich hoffe, er hat Frieden gefunden, bevor er starb.«
»Und Morzan? Habt Ihr ihn auch gekannt?«, fragte Eragon stirnrunzelnd.
»Er war mein Schüler vor Brom.«
»Und Galbatorix?«
»Ich war einer derjenigen, die ihm als Ratsmitglied einen neuen Drachen verweigerten, nachdem sein erster getötet worden war. Aber nein, zu meinem Glück war ich niemals sein Lehrer. Er hatte es sich nämlich auf die Fahnen geschrieben, alle seine ehemaligen Lehrmeister persönlich umzubringen.«
Eragon hätte noch vieles erfahren wollen, wusste aber, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, seinem Meister Löcher in den Bauch zu fragen, also stand er auf und zog das Wams aus. Zu Saphira sagte er: Ich schätze, wir werden nie alles über Brom erfahren. Fröstelnd straffte Eragon die Schultern und schob die nackte Brust vor.
Oromis ging um ihn herum und blieb stehen, als er die riesige Narbe auf Eragons Rücken sah. »Haben Arya oder die Heiler der Varden dir nicht angeboten, die Striemen zu entfernen? Du solltest sie nicht mit dir herumtragen müssen.«
»Arya hat es mir vorgeschlagen, aber...« Eragon stockte, unfähig, seine Gefühle zu erklären. Schließlich sagte er bloß: »Die Narbe ist jetzt Teil von mir, genauso wie die von Murtagh Teil von ihm ist.«
»Murtagh?«
»Ja. Er hatte eine ganz ähnliche Narbe. Als er noch ein Kind war, hat sein Vater, Morzan, ein Schwert nach ihm geworfen. Daher stammte sie.«
Oromis bedachte Eragon mit einem langen, ernsten Blick, dann nickte er und umkreiste ihn weiter. »Du bist recht muskulös und nicht so einseitig trainiert wie die meisten Schwertkämpfer. Bist du beidhändig?«
»Eigentlich nicht, aber als ich mir in Teirm das Handgelenk brach, musste ich lernen, mit links zu kämpfen.«
»Gut. Das spart uns etwas Zeit. Falte die Hände im Rücken, und hebe die Arme, so hoch du kannst.« Eragon tat wie geheißen, aber in dieser Haltung schmerzten seine Schultern, und es gelang ihm kaum, die Hände zusammenzuhalten. »Nimm die Arme wieder nach vorne und beuge dich mit durchgedrückten Beinen herunter! Versuche, den Boden zu berühren!« Das fiel Eragon sogar noch schwerer. Er stand da wie ein Buckliger und seine Fingerspitzen waren noch immer eine gute Unterarmlänge vom Boden entfernt. »Immerhin kannst du dich strecken, ohne dich zu verletzen. Das ist mehr, als ich gehofft habe. Die Übungen überfordern dich nicht. Das ist gut.«
Dann wandte Oromis sich zu Saphira um: »Ich muss auch von dir wissen, wie beweglich du bist, Drache.« Er wies sie an, einige komplizierte Stellungen einzunehmen, bei denen sie jeden Zoll ihres geschmeidigen Körpers absurd verrenken musste, und ließ sie anschließend einige tollkühne Flugkunststücke vorführen, die Eragon noch nie gesehen hatte. Es gab nur wenige Übungen, wie zum Beispiel einen geschraubten Rückwärtssalto, die ihr nicht gelingen wollten.
Als sie landete, ergriff Glaedr das Wort: Ich fürchte, wir haben unsere Drachen früher verhätschelt. Hätten sie nach der Geburt allein zurechtkommen müssen, so wie Saphira, hätten sie vermutlich das gleiche Geschick entwickelt.
»Nein«, widersprach Oromis. »Selbst wenn man Saphira in Vroengard aufgezogen hätte, wäre sie eine außergewöhnliche Fliegerin geworden. Ich habe selten einen Drachen gesehen, der sich von Natur aus am Himmel so heimisch fühlte.« Saphira klimperte mit den Lidern, rückte die Flügel zurecht und legte den Kopf zwischen die Vorderbeine, wo sie mit plötzlich erwachtem Eifer eine Klaue sauber leckte. »Du kannst dich natürlich noch verbessern, wie wir alle, aber du bist schon sehr weit.« Mit kerzengeradem Rücken setzte der Elf sich wieder hin.
In den nächsten Stunden lotete Oromis in allen erdenklichen Bereichen Eragons und Saphiras Wissensstand aus, von Pflanzenkunde über Holzbearbeitung bis hin zu Metallkunde und Heilkunst, wobei er das Hauptaugenmerk auf Geschichte und die alte Sprache legte. Die Fragerei störte Eragon nicht, er fand es sogar schön. Es erinnerte ihn daran, wie Brom auf ihren langen Reisen sein Wissen abgefragt hatte.
Am Mittag machten sie eine Pause. Oromis bat Eragon in die Hütte, während die beiden Drachen draußen blieben. Die Behausung des Elfen enthielt nur das Nötigste: Lebensmittel, Waschzeug sowie Material für seine Studien. Zwei Wände waren von oben bis unten mit kleinen Schubfächern versehen, in denen hunderte Schriftrollen lagerten. Über dem Schreibtisch hingen eine goldene Schwertscheide - sie hatte die gleiche Farbe wie Glaedrs Schuppenpanzer - und ein passendes Schwert mit einer bronzefarbenen Klinge.
An der Türinnenseite prangte ein großes Gemälde, das eine malerische Stadt an einem Steilhang zeigte. Die Landschaft war in den rötlichen Lichtschein des aufgehenden Herbstmonds getaucht. Die Darstellung war so klar und detailliert, dass Eragon sie im ersten Moment für ein magisches Fenster hielt. Nur weil sich nichts darin bewegte, konnte er glauben, dass es tatsächlich bloß ein gewöhnliches Gemälde war.
»Wo liegt dieser Ort?«, fragte er.
Ein Zucken huschte über Oromis’ feine Gesichtszüge. »Präge dir diese Landschaft gut ein, Eragon, denn dort liegt die Wurzel unseres Unglücks. Du siehst das, was einst unsere Stadt Ilirea war. Sie brannte während des Drachenkriegs nieder. Später war sie die Hauptstadt des Königreichs Broddring und heute heißt sie Urû’baen. Ich habe dieses Fairith, dieses Wunschbild, in der Nacht erschaffen, als ich meine Heimat wegen Galbatorix verlassen musste.«
»Ihr habt es gemalt?«
»Es stammt von mir, ja, aber es ist nicht gemalt. Ein Wunschbild ist eine Vorstellung, die man mittels Magie auf eine polierte, mit Farbpigmenten vorbehandelte Holztafel projiziert. Die Landschaft in dem Gemälde entspricht genau dem Bild von Ilirea, das ich zuletzt sah, bevor ich geflohen bin.«
»Und was«, fragte Eragon, aus dem es nur so heraussprudelte, »was war das Königreich Broddring?«
Oromis’ Augen weiteten sich ungläubig. »Das weißt du nicht?« Eragon schüttelte den Kopf. »Wie kannst du das nicht wissen? Ich kann ja verstehen, dass du als Bauernjunge in Unkenntnis über dein Erbe aufgewachsen bist. Aber ich kann kaum glauben, dass Brom als Lehrmeister so nachlässig war, etwas zu übergehen, was schon die jüngsten Elfen und Zwerge beigebracht bekommen. Die Kinder deiner Varden könnten mir mehr über die Vergangenheit erzählen als du.«
»Brom war mehr damit beschäftigt, mich am Leben zu halten, als mir von Leuten zu erzählen, die längst tot sind«, gab Eragon zurück.
Die Bemerkung ließ Oromis verstummen. Nach einer Weile sagte er: »Vergib mir! Es war nicht meine Absicht, Broms Unterricht infrage zu stellen. Ich bin leider viel zu ungeduldig. Wir haben so wenig Zeit, und du musst noch so vieles lernen, um als Drachenreiter wahre Meisterschaft zu erlangen.« Er öffnete einen der in der Wand verborgenen Vorratsschränke, holte Brot und Schalen mit Früchten heraus und stellte alles auf den Tisch. Bevor er anfing zu essen, hielt er einen Moment lang mit geschlossenen Augen inne. »Das Königreich Broddring war vor dem Untergang der Drachenreiter das Land der Menschen. Nachdem Galbatorix Vrael getötet hatte, flog er mit den Abtrünnigen nach Ilirea, wo er König Angrenost stürzte und selbst den Thron bestieg. Seither bildet Broddring das Herzstück von Galbatorix’ Eroberungen. Er verleibte seinem Reich Vroengard und mehrere andere Länder im Osten und Süden ein und schuf so das Imperium, wie du es kennst. Theoretisch existiert Broddring noch, aber heutzutage ist es kaum mehr als ein Name auf königlichen Verlautbarungen.«
Um den Elf nicht weiter mit Fragen zu löchern, widmete sich Eragon dem Essen. Sein Gesichtsausdruck musste ihn jedoch verraten haben, denn Oromis sagte: »Du erinnerst mich an Brom, als ich ihn als meinen Schüler ausgewählt habe. Er war jünger als du, gerade erst zehn, aber genauso wissbegierig. Ich glaube, im ersten Jahr habe ich von ihm kaum andere Worte gehört als wiewaswannund vor allem warum. Zögere nicht, mich zu fragen, wenn du etwas wissen möchtest.«
»Ich will alles wissen«, flüsterte Eragon. »Wer seid Ihr? Woher kommt Ihr... Woher kam Brom? Wie war Morzan? Wie, was, wann, warum? Und ich will alles über Vroengard und die Drachenreiter erfahren. Vielleicht werde ich mir dadurch über meinen eigenen Weg klarer.«
Es wurde still zwischen ihnen, während Oromis eine Brombeere zerlegte, indem er peinlich genau eine runde Spelze nach der anderen aus der Frucht löste. Als das letzte Stückchen zwischen seinen Lippen verschwunden war, rieb er sich die Hände - »polierte die Handflächen«, wie Eragons Onkel Garrow es immer ausgedrückt hätte - und sagte: »Dann sollst du Folgendes über mich wissen: Ich wurde vor einigen Jahrhunderten in der Elfenstadt Luthivíra geboren, am Ufer des Tüdosten. Mit zwanzig führte man mich wie alle Elfenkinder zu den Eiern, welche die Drachen den Reitern überließen, und Glaedr erwählte mich und schlüpfte. Wir wurden zu Drache und Reiter ausgebildet und beinahe ein Jahrhundert lang bereisten wir in Vraels Diensten die Welt. Schließlich kam der Tag, an dem wir uns von unseren öffentlichen Aufgaben zurückziehen mussten, um unsere Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. Also gingen wir nach Ilirea und bildeten dort neue Drachenreiter aus, nie mehr als einen oder zwei auf einmal, bis Galbatorix kam und alles zerstörte.«
»Und Brom?«
»Brom entstammte einer Buchmalerfamilie in Kuasta. Seine Mutter hieß Nelda und sein Vater Holcomb. Da Kuasta seit jeher durch den Buckel vom restlichen Alagaësia getrennt war, wurde es mit der Zeit zu einem seltsamen Ort mit sonderbaren Bräuchen und abergläubischen Vorstellungen. Als Brom neu in Ilirea war, klopfte er immer dreimal an den Türpfosten, bevor er einen Raum betrat oder verließ. Die anderen Schüler haben sich darüber lustig gemacht, bis er schließlich diese und einige andere seltsame Angewohnheiten aufgab.
Morzan war vor Brom mein Schüler - und mein größter Misserfolg. Brom hat ihn verehrt. Er wich ihm nie von der Seite, widersprach ihm nie und konnte sich nicht vorstellen, Morzan eines Tages ebenbürtig zu sein. Ich schäme mich, es zuzugeben, weil ich es hätte unterbinden können, aber Morzan war sich dessen bewusst und hat Broms Verehrung schamlos ausgenutzt. Er wurde so arrogant und grausam, dass ich erwog, ihn und Brom voneinander zu trennen. Aber bevor sich eine Gelegenheit dazu bot, half Morzan Galbatorix dabei, einen frisch geschlüpften Drachen namens Shruikan zu stehlen, der Galbatorix’ getöteten Drachen ersetzen sollte. Bei dem Diebstahl haben sie den Drachenreiter umgebracht, dem Shruikan eigentlich zugedacht war. Danach sind Morzan und Galbatorix geflohen und haben so unseren Untergang besiegelt.
Du kannst dir nicht vorstellen, welche Wirkung Morzans Verrat auf Brom hatte, wenn du nicht begreifst, wie sehr Brom ihn verehrt hat. Als Galbatorix sich der Welt zeigte und die Abtrünnigen Broms Drachen töteten, hat Brom seinen ganzen schmerzerfüllten Zorn auf den gerichtet, der seine Welt hatte einstürzen lassen: auf Morzan.«
Traurig hielt Oromis einen Moment lang inne. »Weißt du, warum es einen Reiter normalerweise umbringt, wenn er seinen Drachen verliert?«
»Ich kann es mir denken«, sagte Eragon. Ihm schauderte bei der Vorstellung.
»Der Schmerz und die Trauer an sich sind schon schlimm genug, aber den größten Schaden verursacht das Gefühl, dass ein Teil des eigenen Geistes, des eigenen Selbst, gestorben ist. Als Brom dies widerfuhr, hat er wohl für eine Weile den Verstand verloren. Nachdem ich aus meiner Gefangenschaft entkommen war, habe ich ihn zu seinem Schutz nach Ellesméra gebracht, aber er wollte nicht bleiben. Stattdessen ist er mit unserer Streitmacht nach Ilirea marschiert, wo König Evandar getötet wurde.
Das anschließende Durcheinander war unbeschreiblich. Galbatorix war im Begriff, seine Macht zu festigen, die Zwerge zogen sich zurück, der Südwesten erstickte im Krieg, als die Menschen dort rebellierten und Surda gründeten, und wir hatten gerade unseren König verloren. Von Rachedurst getrieben, versuchte Brom, das Durcheinander für seine Ziele zu nutzen. Er scharte die Heimatlosen um sich, befreite viele Menschen aus der Gefangenschaft und rief so die Volksgruppe der Varden ins Leben. Einige Jahre war er ihr Anführer, bis er die Position zugunsten eines anderen aufgab, um sein eigentliches Ziel zu verfolgen, nämlich Morzan zu stürzen. Bei dem anschließenden Rachefeldzug hat Brom drei der abtrünnigen Drachenreiter, darunter auch Morzan selbst, umgebracht und war mitverantwortlich für den Tod von fünf weiteren Verrätern. Er hat nur wenige glückliche Zeiten erlebt, aber er war ein hervorragender Drachenreiter und ein guter Mensch, und es macht mich stolz, ihn gekannt zu haben.«
»Ich habe seinen Namen nie in Zusammenhang mit dem Tod der Abtrünnigen gehört«, warf Eragon ein.
»Galbatorix wollte nicht bekannt werden lassen, dass es Leute gab, die seine Lakaien besiegen konnten. Seine Macht beruht vor allem auf dem Ruf, unverwundbar zu sein.«
Einmal mehr musste Eragon sein Bild von Brom revidieren - vom Geschichtenerzähler, als den er ihn kennen gelernt hatte, über den Krieger und Magier, mit dem er umhergereist war, bis zu dem ehemaligen Drachenreiter, als der er sich schließlich zu erkennen gegeben hatte. Und nun war er noch dazu ein Aufrührer, ein Revolutionsführer. Es fiel Eragon schwer, all diese Rollen miteinander in Einklang zu bringen. Mir kommt es vor, als hätte ich Brom kaum gekannt. Ich wollte, wir hätten nur ein einziges Mal Gelegenheit gehabt, über all diese Dinge zu reden. »Er war ein guter Mensch«, stimmte Eragon dem Elf zu.
Er schaute aus einem der runden Fenster zu Saphira hinaus. Ihm fiel auf, wie seltsam sie sich gegenüber Glaedr gebärdete, schüchtern und gleichzeitig kokett. Sie fuhr herum und tat so, als würde sie irgendetwas auf der Lichtung suchen, nur um im nächsten Moment auf den größeren Drachen zuzuwatscheln und ihm schöne Augen zu machen. Dabei schaukelte sie den Kopf hin und her und wedelte mit dem Schwanz, als wollte sie einen Baum fällen. Das Ganze kam Eragon vor, wie wenn ein junges Kätzchen einen alten Kater zum Spielen bewegen wollte - nur dass Glaedr Saphiras Annäherungsversuche offenbar kalt ließen.
Saphira, sagte Eragon, erhielt jedoch nur ein abwesendes Brummen als Antwort. Sie bemerkte ihn kaum. Saphira, antworte mir!
Was ist denn?
Ich weiß, dass du aufgeregt bist, aber mach dich bitte nicht lächerlich.
Du hast dich selbst oft genug lächerlich gemacht, schnappte sie zurück.
Die Antwort kam so unerwartet, dass Eragon verblüfft verstummte. Es war die Art beiläufige Retourkutsche, die Menschen oft von sich gaben, die er von ihr jedoch nie erwartet hätte. Schließlich brachte er heraus: Das ist aber kein Grund, dich genauso peinlich zu verhalten. Sie schnaubte verärgert und verschloss ihren Geist, wenngleich Eragon trotzdem noch das emotionale Band zu ihr spürte.
Eragons Gedanken kehrten in die Hütte zurück, und er bemerkte, dass Oromis ihn aus seinen grauen Augen anstarrte. Dem Elf war bestimmt nicht entgangen, was sich soeben zugetragen hatte. Eragon lächelte verdrossen und gestikulierte in Saphiras Richtung. »Wir beide haben zwar eine innige Verbindung zueinander, aber ich weiß trotzdem nie, was sie als Nächstes anstellt. Je besser ich sie kennen lerne, desto stärker merke ich, wie verschieden wir sind.«
Darauf sagte Oromis zum ersten Mal etwas, das Eragon sehr weise fand: »Diejenigen, die wir lieben, sind uns oft am wenigsten vertraut.« Der Elf machte eine Pause. »Sie ist sehr jung, genau wie du. Glaedr und ich haben Jahrzehnte gebraucht, bis wir uns wirklich verstanden haben. Die Bande eines Reiters zu seinem Drachen sind wie alle Beziehungen: Sie wachsen und unterliegen einem fortwährenden Wandel. Vertraust du ihr?«
»Voll und ganz.«
»Und vertraut sie dir?«
»Ja.«
»Dann habe Verständnis für ihr Gebaren! Du bist als Waise aufgewachsen. Sie wurde in dem Glauben groß, das letzte Wesen ihrer Art zu sein, das nicht dem Wahnsinn verfallen ist. Und jetzt stellt sich heraus, dass sie doch nicht allein ist. Also sei nicht überrascht, wenn es ein paar Monate dauert, bis sie aufhört, Glaedr nachzustellen, und dir wieder mehr Beachtung schenkt.«
Eragon rollte eine Blaubeere zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihm war der Appetit vergangen. »Warum essen Elfen eigentlich kein Fleisch?«
»Warum sollten wir das tun?« Oromis hielt eine Erdbeere hoch und drehte sie so, dass ihre samenbesetzte Haut das Licht einfing und die winzigen Härchen der Frucht aufschimmerten. »Alles, was wir brauchen, schenkt uns die Pflanzenwelt. Es wäre barbarisch, Tiere leiden zu lassen, nur um bei Tisch ein paar Gerichte mehr zu haben … Du wirst diese Haltung bald verstehen.«
Eragon runzelte die Stirn. Er hatte immer Fleisch gegessen und war alles andere als erfreut darüber, in Ellesméra nur Obst und Gemüse vorgesetzt zu bekommen. »Fehlt Euch der Geschmack nicht?«
»Man kann nicht vermissen, was man nie gekannt hat.«
»Was ist mit Glaedr? Er wird sich wohl kaum von Gras ernähren.«
»Nein, aber auch er verursacht niemals unnötige Schmerzen. Wir alle machen das Beste aus dem, was uns gegeben ist. Man kann nichts dafür, als wer oder was man geboren wurde.«
»Und Islanzadi? Sie trägt einen Mantel aus Schwanenfedern.«
»Ausgefallene Federn, die über viele Jahre hinweg gesammelt wurden. Kein Vogel wurde getötet, um ihr Gewand herzustellen.«
Sie beendeten ihre Mahlzeit, und Eragon half Oromis, die Teller mit Sand zu säubern. Als der Elf das Geschirr in den Schrank zurückstellte, fragte er Eragon: »Hast du heute gebadet?« Die Frage jagte Eragon einen kleinen Schreck ein, aber er antwortete wahrheitsgemäß, dass er sich heute nicht gewaschen hätte. »Dann bade bitte morgen und in Zukunft jeden Tag nach dem Aufstehen.«
»Jeden Tag! Das Wasser ist doch viel zu kalt! Ich werde mich bestimmt erkälten.«
Oromis sah ihn schräg an. »Dann erwärme es doch.«
Nun war es an Eragon, die Augen zu verdrehen. »Meine magischen Kräfte sind nicht stark genug, um einen ganzen Fluss aufzuheizen.«
Die Hütte erbebte unter Oromis’ schallendem Lachen. Draußen hob Glaedr den Kopf und warf dem Elf durchs Fenster einen langen, prüfenden Blick zu, bevor er sich wieder beruhigt im Gras niederließ. »Ich nehme an, du hast letzte Nacht dein Quartier in Augenschein genommen«, erkundigte sich Oromis. Eragon nickte. »Und hast du auch den kleinen Raum mit der Wanne im Boden gesehen?«
»Ich dachte mir, die ist vermutlich zum Kleiderwaschen.«
»Sie ist dazu gedacht, dich zu waschen. Über der Wanne findest du zwei kleine Hähne in der Wand. Aus ihnen kannst du Badewasser in jeder beliebigen Temperatur einlassen. Außerdem«, er deutete auf Eragons struppiges Kinn, »erwarte ich, dass du dich als mein Schüler rasierst, bis du dir einen Bart stehen lassen kannst, ohne wie ein halb entlaubter Baum auszusehen. Das heißt, falls du überhaupt einen Bart tragen willst. Elfen brauchen keine Rasur, aber ich werde dir Rasierklinge und Spiegel schicken lassen.«
Eragon zuckte zusammen, in seiner Eitelkeit verletzt, und bekundete murmelnd seinen Gehorsam. Dann gingen er und Oromis wieder nach draußen. Der Elf warf Glaedr einen kurzen Blick zu, woraufhin der Drache verkündete: Wir haben für dich und Saphira einen Lehrplan festgelegt.
Der Elf sagte: »Der Unterricht beginnt -«
morgen früh, eine Stunde nach Sonnenaufgang, wenn die rote Lilie erwacht. Kommt dann wieder hierher!
»Und bring den Sattel mit, den Brom für Saphira angefertigt hat«, fügte Oromis an. »Bis dahin könnt ihr eure Zeit verbringen, wie es euch beliebt. Ellesméra hält viele Wunder bereit für Besucher mit wachen Augen.«
»Wie Ihr wünscht«, sagte Eragon und verneigte sich. »Bevor ich gehe, Meister, möchte ich Euch dafür danken, dass Ihr mir in Tronjheim beigestanden habt, nachdem ich Durza besiegt hatte. Ohne Eure Hilfe hätte ich bestimmt nicht überlebt. Ich stehe in Eurer Schuld.«
Wir beide stehen in Eurer Schuld, Meister, fügte Saphira an.
Oromis lächelte leicht und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken.

 

 

Der Auftrag des Aeltesten
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